NMZ vom 14.10.2011: Von der Vergänglichkeit der Seifenblase: ein „Ho(w)ly Trip“ mit Stefano Landi und der Pocket Opera Company Nürnberg

Wieder einmal hat die Nürnberger Pocket Opera für ihre Neuproduktion einen gänzlich neuen Spielort für sich entdeckt: im chicen Nordostpark steht ein altes Heizkraftwerk mit neun hohen Fensterfronten und zwei schmalen Innenstegen an den fensterlosen Seiten. Ansprechend beleuchtet, ist der Hauptraum des Gebäudes zugleich Spielfläche und Auditorium. Die Zuschauer sind auf dreh- und fahrbaren Bürostühlen platziert, im Rücken spielt das Orchester, und auf eine freie Seitenwand wird projiziert, davor angesiedelt ist ein rosenblätterbestreutes Geviert mit Sessel und Stepper als eine weitere Handlungsebene.
Denn wieder einmal collagiert POC mehrere, differenzierende Werkbereiche aus unterschiedlichen Jahrhunderten: Stefano Landis dreiaktige Oper „Il Sant’ Alessio“ (1631), Franz Schuberts „Winterreise“ (1827), Lumieres Filmaufnahme von Loïe Fullers „Danse Serpentine“ (1896) und Allen Ginsbergs „Howl“ (1955).
Drei venezianische Masken senden vom Hauptsteg Seifenblasen in Richtung Publikum und bedauern mit Wehklagen deren Zerplatzen. Dann beginnt die Opernhandlung vom jungen Alessio, der bis zu seinem Tod im Treppenhaus seiner Eltern unerkannt und unbemerkt lebte.
Inmitten der Weinenden, auf einem Berg von Müllsäcken oder in schwindelnder Höhe des zweiten Gitterrost-Steges, rezitiert die Münchner Schauspielerin Viola von der Burg eindrucksvoll die rhythmische Prosa von Allen Ginsberg aus der Zeit der Beatniks, sein damals als obszön verschrienes „Geheul“. Das Kostüm der Schauspielerin gehört zu den raffiniertesten Schöpfungen dieses Abends, eine Stadtstreicherin, gemischt aus höchst differierenden Teilen (Ausstattung: Evelyn Straulino), gesteigert zu einem indianischen Priesterinnengewand, – denn Ginsbergs Gedicht über Elend und Vereinsamung mündet in einen hymnisch-optimistischen Schluss, alles sei heilig. Ein biedermeierlich kostümierter Wanderer auf der Stelle seines Zimmers (Klaus Meile) rezitiert Gedichte von Wilhelm Müller, die Schubert durch die „Winterreise“ unsterblich gemacht hat.
Dramatisch kernig, mit klarer Höhe, singt Eva Marie-Pausch die Braut des Alessio, kraftvoll und sauber führt Katharina Heiligtag (als Roma und Curtio) ihren Mezzo, und Robert Eller leiht dem Dämon profunde Bass-Töne. Zum sehr homogenen vokalen Klangbild tragen auch der kraftvolle Counter Johannes Reichert als Martio, Gertrud Demmler-Schwab als Alessios Mutter und Christopher Kessner als Amme bei.
Nicht immer rhythmisch korrekt, aber mit schön geführtem, tragfähigem Tenor gestaltet Florian Neubauer die Titelfigur des Alessio als Aussteiger, der kurz vor Ende der Opernhandlung auch das Schubert-Lied über die zwei „Nebensonnen“ singen darf, wozu die zuvor jeweils zu Schubert eingesetzte Film-Projektion der Tänzerin Loïe Fuller optisch verdreifacht wird.
Szenisch führt Regisseur Thomas Herr das Sextett mit Minimalaktionen. Laken werden zu Rettungsseilen verknotet und Koffer gepackt. Aus dem Tanztheater übernommen sind permanent repetierte Bewegungen der handelnden Figuren als deren Ticks und schwerere Schäden. Auf rot erleuchteter Glasscheibe treffen sich im zweiten Teil des dreistündigen Abends die Outlaws, Alessio – nun mit elchköpfigem Wanderstab –, die Stadtstreicherin und der Wanderer.
Vom Libretto der Oper, aus der Feder des späteren Papstes Clemens IX., vermittelt sich an diesem Abend nicht all zu viel. Am Ende greift Herrs akribische Inszenierung das Motiv der Seifenblasen-Produktion wieder auf –ein Bild der – Stefano Landi und Giulio Rospiglioso gemäß christlich konnotierten – Vergänglichkeit.
Um so überdauernder, überraschend lebendig, ist die Musik, mit reinen Orchesterpassagen, trefflichen Arien, Terzetten und Ensembles, gipfelnd im Hochgesang „Felice Roma“. Den eigentlichen Kick bekommt die deutsche Erstaufführung von Landis Partitur durch ihren Bearbeiter Franz Killer, der auch der musikalische Leiter der Aufführung ist. Killers Orchestrierung mit Harfe, Cello und Kontrabass, Keyboard-Cembalo, Marimba-, Vibra- und vier Saxophonen, sowie Crotales und Obu, überaus süffig und sinnlich arrangiert, schlägt den Bogen zur Gegenwart und integriert auch freie, jaulende Echos.
Einen hohen Stellenwert besitzt Killers Orchestrierung auch bei den Schubert-Liedern; hier erfolgt bewusst die Zweiteilung in Text und Komposition, denn nach der Rezitation der Lyrik interpretiert das Orchester Schuberts Lieder als Orchesterstücke ohne Worte. Beim „Lindenbaum“ zeichnet das Vibraphon das Rauschen der Zweige.
Das Publikum, welches trotz seiner mobilen Stühle seine Position kaum verändert hat, dankt nach dem knapp dreistündigen Abend im herbstlich kühlen Heizwerk mit warmem Applaus.
Weitere Aufführungen: 14., 15., 20., 21. Oktober 2011.

Abendzeitung Nürnberg vom 15.10.2011

Karambolage mit Seifenblasen

Alte Musik trifft auf Pop: Das neue Projekt “Ho(w)ly Trip” der Pocket Opera

Von Dieter Stoll

NÜRNBERG  Die Entdeckung eines Aufführungsortes, der in seinem ersten Leben nicht mal in wildesten Träumen für Theater gedacht war, gehört zur Basis-Arbeit jeder Produktion der Nürnberger Pocket Opera Company. Auch die neueste Premiere, „Ho(w)ly Trip – Die Reise des Alessio“, eine beherzt über vier Jahrhunderte greifende Montage aus Ur-Oper, Kunst-Lied und Skandal-Lyrik, hebt die (wohlklingende) Stimme gegen die Abrissbirne. Im stillgelegten Heizkraftwerk Nordostpark, inmitten abendlich ausgestorbener Firmen-Ansiedlungen, erlebt das Publikum den Zauber einer ästhetischen Karambolage. Sie beginnt und endet mit Seifenblasen – und schillert auch die knapp drei Stunden dazwischen in jeder Phase verführerisch.
Seit Franz Killer die Leitung der POC übernahm, ist die Verbindung von alter Musik mit den Wucherungen der Pop-Kultur programmatisch. Diesmal gibt ein Bühnenwerk des 1639 verstorbenen Stefano Landi das Gerüst, auf dem Gedanken und Gefühle ins Bodenlose klettern können. Die Story vom schrulligen Heiligen, der unerkannt unter der Treppe des Elternhauses lebte, hat ein späterer Papst als Opern-Vorlage gedichtet, so als ob Benedikt persönlich für ein Musical über die Resl von Konnersreuth gesorgt hätte. Komponist Landi war es recht, er konnte damit Impulse für die Reform des Musiktheaters setzen.
Natürlich geht die POC viel weiter. Der staunend aufs lebend blickende Titelheld Alessio (Florian Neubauer) ist umgeben von defekten Pracht-Marionetten, die ihre Kostümierung zwischen History und Fantasy zuckend spazieren tragen. Unter diesem großen Bogen finden wunderliche Begegnungen statt zwischen Schubert-Melancholie am „Brunnen vor dem Tore“ und Allen Ginsbergs schocktherapeutischer Lyrik von der immerwährenden Suche nach dem „absoluten Orgasmus“. Im Gegenschnitt wirbelt aus dem Jahr 1896 der verfilmte Tanz der hochkonzentriert mit ihrem Serpentinen-Kleid wedelnden „Modern Dance“ – Prophetin Loie Fuller, was auch noch die Kamera-Experimente der Lumière-Brüder ins Spiel bringt.
Harter Kern der Aufführung, die von Regisseur Thomas Herr geschickt über alle noch begehbaren Kraftwerk-Laufgitter gelenkt wird, bleibt die Oper.
Franz Killer hat die Musik für sein Ensemble, das neben vier Saxophonen auch Harfe, Cello und Schlagzeug originell einsetzt, neu arrangiert. Da wagt er dramatische Zuspitzungen bis zum Kurzbesuch vom „Weißen Hai“ und verschafft der manchmal dann doch wie von Kirchentags-Posaunen geleasten Komposition ihr Leben diesseits der Verklärung.
Sieben vorzügliche Sänger und zwei Rezitatoren sind im Einsatz, wobei Viola von der Burg als Hippie-Hexe für Ginsberg-Attacken mit überquellendem Kraftwort-Zynismus am kühnsten auf dem
Wellenschlag der Jahrhunderte tanzt.
Zum Finale werfen die Akteure ihre Kostümierung ab, tauchen demaskiert aus dem Rollenverhalten auf. Nur Rudolf bleibt, was er ist – der wippende Ikea-Drehstuhl für Grundschüler, dem Publikum im Kraftwerk als Ersatz Parkett hingebaut. Auch ganz schön kühn. Aber selbst sinkende Temperaturen konnten die Begeisterungsstürme am Ende nicht dämpfen. Ein wahrhaft magischer Abend.

Nürnberger Zeitung vom 15.10.2011

„Ho(w)ly Trip“, die POC-Premiere im Kraftwerk

Ein Jüngling im Erlebnisrausch

Die stets knisternde Wundertüte einer neuen Pocket Opera Premiere wurde diesesmal tief im Nürnberger Nord-Ost-Park verscharrt und am Donnerstag im stillgelegten Heizkraftwerk in einer furiosen Inszenierung geborgen.
Franz Killer, der zuverlässig auf den Hörnerv drückende Reanimator barocker Opern und anderen Lied- und Sprachguts, lässt den angereisten Liebhaber des gewohnten und gewohnt guten „Poesie-Plus-Programms“ auch diesmal nicht im  Stich und schickt ihn auf gesponserten Kinderdrehstühlen der Marke „Rudolf“ schwindelerregend auf einen wahrhaft „Ho(w)ly Trip“ (so der Titel).
Frei nach Stefano Landis Kirchenoper „Die Reise des Alessio“, uraufgeführt im Jahre 1683, modelliert er ein ausgetüfteltes künstlerisches Triptychon aus Allen Ginsbergs Skandal-Poem „Howl“ und Franz Schuberts Liedern aus dem Zyklus der „Winterreise“. Regisseur Thomas Herr ist dabei nicht nur Nachschubversorger bei neuen Drehstühlen, sondern hat auch bei der Regie für einen straff-originellen Spannungsbogen gesorgt. In der entkernten Halle des Heizkraftwerkes und einer garantiert TÜV-freien Zone macht Alessio, der junge Held (raunend-staunend: Florian Neubauer) sich auf, Glück und Läuterung in der Fremde zu suchen.
Der Sinnsuchende und vom inneren Entwicklungsprogramm gejagte Jüngling mutiert dabei langsam aber gewaltig vom Schlafanzugträger zum Lederjachenbeatnik mit der verheißungsvollen Aufschrift „California“. Nicht dahin verschlägt es ihn, sondern mitten hinein nach Brooklyn, wo vor allem Allen Ginsbergs vor Sex und Drogen strotzende Lyrik ihm die Augen für weiterführende Dinge im Leben öffnet.
Viola von der Burg gibt als Kostümwunder (Evelyn Straulino) und Rezitatorin die optische wie inhaltliche Querschlägerin und pflügt den Text schaurig-schön deklamierend unter das Spektakel.

Geschüttelt von nervösen Ticks

Killer erzählt, flankiert von einem fantastischen Team aus Musik und Sängern, von einem wahrhaftigen Trip, der in Bild und Ton aus dem üblichen Rahmen kippt. Geschüttelt von einseitigen Ticks und Tremors, spreizt sich das Gesangspersonal auch optisch genussvoll in die Erwartungshaltung von Arie und Rezitativ.
Klaus Meile, als Wanderer, wird als Implantat aus dem vorletzten Jahrhundert mit Stock und Hut eingesetzt. Ganz in der Tradition der Romantik darf er den sehnsuchtsvollen Blick in den Abgrund wagen.
Dass sich die Kirchenoper Landis letztlich vor allem durch die Leihgaben der Lyrik erschließt, ist ein „zeitgeistliches“ Thema. Killer hat die beiden Elemente im gedachten Kirchenraum miteinander verlinkt und in bester Form aneinander reiben lassen. Ein fantastischer Trip, auf dem die Pocket Opera durch die Jahrhunderte rast und punktgenau landet.
Karin Lederer

Nürnberger Nachrichten vom 15.10.2011

Komische Vögel und ausgeflippte Heilige
Die Pocket Opera Company zieht es in ein ehemaliges Heizkraftwerk im Nordostpark

Kaum je ist in Deutschland die Oper „Il Sant Alessio“ des italienischen Barock­komponisten Stefano Landi (1587–1639) gelaufen. Die Pocket Opera verknüpft das Werk in einer ganz aparten Eigenfassung nicht nur mit Schuberts „Winterreise“ und Allen Ginsberg zu einem „Ho(w)ly Trip“ , son­dern führt wieder einmal an einen ganz spezifischen Ort: Das ehemalige Heizkraftwerk im Nordostpark.
Wer wüsste es nicht: Das Leben ist zerbrechlich wie eine Seifenblase. So lassen untote Barockgruftis dieses memento mori schon mal von der Hochtribüne purzelnd auf das Publi­kum regnen. Ein toller Kunstgriff von Regisseur Thomas Herr, dass er den scheinbar Verrückten, den frommen Alexius aus dem fünften Jahrhundert, der seiner Umwelt so durchgeknallt vorkam, weil er Weib und alle ande­ren Annehmlichkeiten mit dem Ere­mitendasein vertauschte, als einzigen „normal“ erscheinen lässt.

Alle haben einen Hau
Alle anderen, also Vater, Mutter, die Geliebte und die ganzen Allego­rien namens Engel, Dämon, Religion oder wie sie heißen mögen, haben da­gegen zumindest einen Tick oder gar einen mächtigen Hau. Sie zucken, sie rümpfen die Nase und wehklagen über ihren Liebling in riesige Schnäuz­tücher. Das ist so herrlich überzeich­net wie Allen Ginsbergs Howl (zu deutsch: Möchtegern) eben tatsäch­lich lebt. Der brüllt seine Exzessivi­tät, seine Obsessionen und Früste mit sprachlicher Urkraft in den Saal. Fas­zinierend, wie Viola von der Burg Ginsbergs Aufbegehren als Beat-Hexe in den hohen Raum schleudert: Der eine auf dem Weg zum Himmel, der andere reist bewusst in die Hölle.
Und einer wüsste gerne, wohin die Reise geht: Den Wanderer (war’s nun Franz Schubert oder Wilhelm Müller? Vermutlich beide!) treibt es immer weiter ins eigene Unglück, weg von der unerreichbaren Geliebten.
Ein spielfreudiges und sangeskundi­ges Ensemble führt die Collage zum Erfolg, die vor allem durch Franz Kil­lers hervorragende musikalische Ver­lebendigung der Barockvorlage lebt. Mit vier Saxophonen, Harfe, Cello, Kontrabass, Percussion und Key­board zaubert es sich variantenreich durch die strenge Monodie aus der Steinzeit des Musiktheaters. An je­dem Pult ein Spezialist und doch ein eingeschworenes Kollektiv: Ein gro­ßer Pluspunkt dieser Pocket-Arbeit.
Zwei kleine Mäkeleien müssen er­laubt sein: Wie die einleitende Seifen­blase- Szenerie geriet die ganze Unter­nehmung mit drei Stunden im kalten Saal eindeutig zu lang, zumal auch Re­dundanzen in der Regie auszumachen sind. Und auf Deutsch hätte das Publi­kum besser folgen können. Dennoch: Zu recht anhaltender Applaus für eine musikalisch und theatralisch runde Sache. JENS VOSKAMP